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Bewerbungsgespräch mit dem Computer

Die Digitalisierung macht vor der Personalabteilung nicht halt. Spezielle Software verspricht, ideale Kandidaten anhand eines automatisierten Telefongesprächs zu finden.

Sieht so der Personalfachmann der Zukunft aus? Foto: Getty Images, Blend Images
Sieht so der Personalfachmann der Zukunft aus? Foto: Getty Images, Blend Images

Es klingt faszinierend und erschreckend zugleich – und es ist digitale Realität: Die Software Precire nimmt ein fünfzehnminütiges Telefongespräch mit einem Stellenbewerber auf, wobei dieser standardisierte Fragen beantwortet, die nichts mit der künftigen Arbeit zu tun haben. «Wie haben Sie den letzten Sonntag verbracht?» «Beschreiben Sie ein schönes Erlebnis, das Sie letzte Woche hatten.»

 

Danach erstellt Precire ein Persönlichkeitsprofil, das laut seinen Erfindern objektiver und genauer ist als alle Erkenntnisse, die bei einem normalen Bewerbungsgespräch gewonnen werden. Hierzu stützt sich die Software auf Kriterien wie Wortwahl, Komplexität der Sätze, Pausen, Sprachflüssigkeit, sprachliche Klarheit, Häufigkeit bestimmter Wörter, Eigenheiten der Stimme, etwa Höhe und Lautstärke. Das Charakterprofil liefert dem potenziellen Arbeitgeber Angaben, ob jemand kontaktfreudig, ausdauernd, kooperationsbereit, zielorientiert, teamfähig, extrovertiert, begeisterungs- und durchsetzungsfähig ist.

 

Christian Greb, ein Mitbegründer der in Aachen ansässigen Firma Precire Technologies, sagt in einem Telefongespräch mit dem «Tages-Anzeiger»: «Das Neue an Precire besteht darin, dass wir quantitative und formale Muster psychologischen Kategorien zuordnen. Dazu haben wir rund 6000 Personen mit traditionellen psychologischen Tests analysiert und die Ergebnisse mit sprachlichen Parametern in Verbindung gesetzt.»

 

Greb betont, Precire berücksichtige jeweils mehrere Hundert linguistische Kriterien auf verschiedenen sprachlichen Ebenen. Wenn jemand besonders häufig «ich» sage, bedeute es noch nicht, dass die Person dominant, führungsstark oder egoistisch sei. Dies ergebe sich allenfalls erst unter Berücksichtigung zahlreicher anderer sprachlicher Merkmale. «Entscheidend ist nicht ein einzelnes Wort, sondern ein äusserst komplexes Muster. Die Treffsicherheit der Software liegt bei 75 bis 80 Prozent.»

 

Precire Technologies beschäftigt ein Team von rund 30 Psychologen, Linguisten und Informatikern. Greb behauptet, es gebe weltweit kein anderes Start-up-Unternehmen, das einen derart «ganzheitlichen Ansatz» der Sprachanalyse entwickelt habe.

 

Software wird bereits genutzt

 

In Deutschland setzen der Personalvermittler Randstad, der Frankfurter Flughafen, eine Krankenkasse, einige Unternehmensberatungen sowie ein Versicherungskonzern Precire ein. In der Schweiz greifen Greb zufolge drei Unternehmen auf Precire zurück, allerdings nicht bei der Rekrutierung von Mitarbeitern, sondern bei der Entwicklung von Personal. Die Namen der Firmen will der Start-up-Unternehmer aus Aachen nicht nennen. Greb betont, die Auswahl von Stellenbewerbern sei keineswegs die einzige Möglichkeit, Precire einzusetzen, und auch nicht die häufigste. In erster Linie werde die Software, genau wie bei den drei Schweizer Unternehmen, für interne Auswertungen und Schulungen von Mitarbeitern angewendet.

 

Eine Journalistin der «Frankfurter Allgemeinen» war nach einem Selbstversuch mit Precire von den Ergebnissen beeindruckt. Hingegen betont Fredi Lang vom Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen in der «NZZ am Sonntag», die Genauigkeit von Precire sei nicht belegt. «Das sind reinste Werbeversprechen.» Auch Joachim Scharloth, Professor für Angewandte Linguistik an der Universität Dresden, stellt die Aussagekraft solcher Software laut «NZZ am Sonntag» infrage. Und Klaus Kubinger vom Arbeitsbereich für Diagnostik am Institut für Psychologie der Uni Wien urteilt in der österreichischen Zeitung «Der Standard»: «Das Produkt ist nicht durch die wissenschaftliche Psychologie mit all ihren Konsumentenschutzmechanismen gegangen.» Das Start-up verweist indessen auf eine «unabhängige Validierung durch die Hochschule Fresenius» (eine private Universität für angewandte Wissenschaften), die im Januar 2016 zu einem äusserst positiven Resultat gekommen sei.

 

Indizien, aber keine Gewissheit

 

Raphael Zahnd ist der Leiter von Innovation und Marketing bei Careerplus, einem in Bern domizilierten Unternehmen für Rekrutierung, Personal- und Karriereberatung mit 120 Mitarbeitern. Im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» sagt er: «Ich kenne Precire nicht. Aber Start-ups bieten mir häufig Software und sonstige Tools an. Das meiste davon ist unbrauchbar, weil es schlicht nicht ausgereift ist.» Ein automatisierter Persönlichkeitstest könne bestenfalls eines von mehreren Elementen sein, um Personal zu rekrutieren. Zahnd vergleicht Precire mit einer grafologischen Analyse, die Indizien, aber keine Gewissheiten liefere und die fehleranfällig sei. Ein persönliches Gespräch und traditionellere Persönlichkeitstests, etwa mit Fragebogen, ersetze die Software nicht. Dennoch schreite die Digitalisierung in der Branche der Personalrekrutierung sehr schnell voran. «Was die Medien und die Banken in den letzten Jahren erlebt haben, steht uns noch bevor.» Immer häufiger würden zum Beispiel Lebensläufe durch computerisierte Programme bewertet und aussortiert. Oder Stellensuchende, die ihre Personalien und Qualifikationen im Internet veröffentlichen, durch Chatbots, also computerisierte Dialogsysteme, kontaktiert.

 

Xavier Chauville, CEO der international tätigen Personalberatungsfirma Page Personnel, schreibt auf Anfrage des «Tages-Anzeigers» in einer Mail: «Computerisierte Rekrutierungsprogramme spielen in unserer Branche eine immer grössere Rolle, aber nur bei eher zweitklassigen Stellen mit vielen Bewerbern. Bei Aufgaben mit einem hohen Anforderungsprofil kommen sie hingegen nicht zum Einsatz, weil es zu viele Nachteile gibt. Dazu gehören Risiko und Kosten, einen falschen Kandidaten zu wählen, ebenso wie Probleme mit dem Datenschutz.»

 

Laut Francis Meier, dem Sprecher des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten, müssen «Unternehmen, die solche Verfahren einsetzen wollen, die betroffenen Personen vor dem Einsatz einer solchen Technologie transparent über den Zweck, die Art der erhobenen Daten und eine allfällige Weitergabe an Dritte informieren. Zudem ist die freie Einwilligung der Betroffenen erforderlich. Bei Bewerbungsverfahren ist jedoch fraglich, ob die Einwilligung tatsächlich freiwillig erfolgt, da die Kandidaten bei einem Widerspruch Nachteile befürchten müssen.»

 

«Datenschutz ist für uns natürlich ein Riesenthema», sagt Greb. Den Unternehmen verkaufe Precire Technologies nicht die Software, sondern die Testergebnisse. Und die Aufzeichnungen würden nicht herausgegeben, sondern nach der Analyse gelöscht – so, dass die Datei nicht wiederherstellbar sei. Bei den Unternehmen, die mit Precire Technologies zusammenarbeiten, sei es kein Problem, wenn ein Kandidat das computerisierte Telefongespräch verweigere; er könne dann einfach einen herkömmlichen Fragebogen ausfüllen. Ob eine Weigerung die Chancen eines Kandidaten reduziere, müsse letztlich das Personalmanagement der jeweiligen Firma entscheiden – das sei dasselbe, wie wenn es jemand ablehne, einen Fragebogen mit persönlichen Fragen zu beantworten. Die gelegentlich in Medien zirkulierende Behauptung, Precire könne Depressionen, Burn-out oder Suizidabsichten erkennen, weist Greb zurück. «Dazu ist unsere Technologie nicht in der Lage.»

 

Nils Schröder, Sprecher der Datenschutzbehörde im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen, stuft die Software dennoch als tiefen Eingriff ins Persönlichkeitsrecht ein, weil der Bewerber unter Druck stehe, die Prozedur nach den Wünschen des Unternehmens durchzuführen. Bei Bewerbungsverfahren sei die Software illegal. Schröder will ein Verbot prüfen und sagt, seine Behörde würde in Nordrhein-Westfalen gegen jedes Unternehmen vorgehen, das Precire einsetzt. Darauf antwortet Greb: «Wenn unser Produkt tatsächlich illegal wäre, dann gäbe es uns schon lange nicht mehr.» (Tages-Anzeiger)

 

tagesanzeiger.ch, März 2017